Der Gedanke die verlassene Stadt Pyramiden wieder zu betreten kreiste schon einige Tage in meinem Kopf herum und so kam mir der Vorschlag eines Mitstudenten gerade recht genau das zu probieren! Es kam alles etwas anders…

Das Wetter war Montags zunächst warm und es schneite stark. Das Thermometer stieg sogar kurzzeitig auf +4°C an. Der Wetterbericht sagte tollstes Wetter und -20°C voraus. -20°C ist kalt und man muss sich auf einem Scooter sehr gut einkleiden sonst geht man sehr schnell zu Grunde aber wir waren bereit es zu versuchen. Wir planten den Trip generalstabsmäßig was vermutlich schlimmeres verhinderte.

Wir packten zwei Schlitten bereits am Vorabend und besorgten über 160 Liter Benzin für 4 Scooter sowie mehrere Zargesboxen zum Transport der Ausrüstung. Wir brachten Notfallausrüstung, Lawinenpiepser, Erste Hilfe Packs, Notfallzelte sowie ein Iridium Satellitentelefon für den absoluten Notfall.

Wir informierten uns in der Logistikabteilung über verschiedene Routen und Eisbedingungen in den Fjorden. Die grobe Route war die selbe welche wir auch beim Ausflug zum Tunabreen wenige Tage zuvor nutzten nur sollte sie noch viel weiter führen. Insgesamt über 120km Hinweg und über 600 Höhenmeter in einem Teil waren zu überwinden.

Insgesamt waren wir wieder 6 Personen auf 4 Scootern (immer zwei freie Plätze falls einer der Scooter den Geist aufgibt). Mit dabei auch ein Local der vor kurzem in der Gegend war und sich auch so ganz gut auskennt.

Es ging los früh am Morgen um halb 9. Es waren -23°C und keine Wolke am Himmel! Das heißt nein, eigentlich waren einige Wolken am Himmel. Sogenannte Polar Stratospheric Clouds welche in Höhen von 20-30km bei Temperaturen unter -80°C entstehen und wie Perlmut schimmern was durch die Zusammensetzung aus Eiskristallen erklärt wird.

Wir richteten alles zu recht und kamen auch recht fix aus der Stadt. Wir hätten ein Thermometer mitnehmen sollen! Es hatte viel geschneit in der Nacht und alle Spuren die die Strecke nach Fredheim markierten waren nicht mehr sichtbar. Trotzdem kamen wir gut voran und legten auch ab und zu Pausen ein und der Local, ein Schwede der hier lebt und arbeitet, erzählte uns einiges über ein paar Landmarks und die Umgebung. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt schon vorsichtiger werden sollen. Es wurde kälter! Ich habe an diesem Tag gerade mal 20 Fotos gemacht und die meisten von Wolken kurz nach dem Verlassen des Hauses. Es war so kalt dass ich es scheute meine Handschuhe auszuziehen!

Wir fuhren trotzdem weiter. Plötzlich hielt unser Konvoi an. Am Wegesrand saß ein Vogel zusammengekauert und vor sich eine Lache mit rotem Erbrochenen. Er sah hilflos aus und sein Flügel wirkte als sei er gebrochen. Der Local reagierte sofort, holte seine Schaufel heraus und wollte den Vogel erlösen. Als er ungefähr einen Meter entfernt war erhob sich der Vogel plötzlich und flog davon… Wir alle starrten uns etwas ungläubig an und lachten denn der Vogel sah wirklich aus als würde er gleich sterben.

Wir setzten unsere Reise fort und erreichten Fredheim schneller als gedacht. Wir waren die ersten an diesem Tag die diese Strecke fuhren und so war das gesamte Tal unberührt, nicht ein Scootertrack sichtbar! Ein absolut herrliches Gefühl, es gibt nichts schöneres als dort zu fahren! Ich ahnte noch nicht dass für mich die Reise hier vorbei sein sollte…

Wir legten eine Pause ein und aßen etwas. Es war so kalt dass meine Finger in wenigen Sekunden steifgefroren waren. Und wenn man weniger isst und trinkt um seine Finger nicht unnötig kalt werden zu lassen dann ist etwas oberfaul und man sollte sofort das einzig vernünftige machen! Umkehren!

Kristina, unser einziges Mädel im Verbund, nutzte die Pause “um mal kurz für kleine Mädchen zu gehen”. Es wunderte mich warum sie so lange brauchte aber dann wurde es mir klar. Der gewisse anatomische Unterschied zwang sie sich leider viel zu sehr zu entkleiden und so unterkühlte sie sich stark und kam schlotternd zurück. Wir mussten ihr helfen ihre Kleider wieder richtig anzuziehen. Sie sagte ihre Finger fühlten sich komisch an und so zogen wir die Handschuhe aus um nachzusehen. Ihre Fingerspitzen waren schneeweiß…Frostbites! Erfrierungen ersten Grades.

Wir versuchten ihre Finger am Auspuff und auch am direkt am laufenden Motor des Scooters aufzuwärmen. Aber es wurde nicht besser und sie fühlte sich am ganzen Körper kalt. Dazu wurde ihr schlecht und sie wollte nichts essen. Alles Anzeichen und endlich hab ich geschnallt was los war!

Meine Meinung war die dass wir geschlossen umdrehen sollten. Leider ist das in der Gruppendynamik immer sehr schwer das den anderen direkt zu vermitteln besonders wenn zwei dabei sind denen es noch blendend geht und die ums Verrecken nach Pyramiden wollen.

Plötzlich fuhr ein Tourist auf seinem Snowscooter vom Hotelschiff vorbei. Kalle, der Local, zögerte nicht lange und sprang auf seinen Snowscooter und jagte dem Scooter hinterher. Leider hatte er seinen Schlitten nicht abgehängt und so produzierte er nach wenigen hundert Metern einen Unfall bei dem alles Gepackte in der Gegend verteilt wurde.

Er erreichte den Touri trotzdem noch und versuchte ihn zu überzeugen Kristina mitzunehmen. Dieser lehnte ab aber bot an einige Minuten auf uns zu warten um im Verband zurückzufahren.

Ich weiß immer noch nicht warum, und ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, aber ich war plötzlich der Meinung dass es das Beste wäre mit Kristina und diesem Touri heimzufahren. Die anderen schienen noch recht fit und wollten die Reise auch fortsetzen.

Wir mussten leider noch den Tank etwas auffüllen und das kostete leider sehr viel Zeit. Der Trichter zum Umfüllen war aus Plastik und hatte etwas Schnee abbekommen. Ich nahm den Trichter und klopfte damit an den Scooter um den Schnee abzuklopfen. Der Trichter zersplitterte augenblicklich in dutzende Teile und war hinüber. Es muss sehr kalt gewesen sein wenn Plastik derartig spröde wird!

Wir hatten zwei Gewehre dabei von welchen ich eines an mich nahm und dann konnte es auch schon los gehen. In der Hoffnung den Touri noch zu erreichen fuhren wir los. Bei der Abfahrt bekamen wir noch ungefähr eine Minute Sonnenschein zu Gesicht. Das erste Mal in diesem Jahr dass ich die Sonne sah ohne dazu auf einen Berg steigen zu müssen!

Es kam wie es kommen musste, der Touri war schon losgefahren da er nicht länger als 10 Minuten warten wollte. Wir waren also zu zweit auf einem Scooter unterwegs weit ab der Zivilisation und ohne Satellitentelefon da ich dieses beim Rest der Truppe zurückließ (GSM-Empfang reicht nur in wenige Täler außerhalb von Longyearbyen). Vor uns lagen 50km Wegstrecke. Eine verdammt gefährliche Situation wenn ich zurückblicke. Ich fuhr alles andere als langsam aber immer so dass ich es gerade noch vertreten konnte. In diesem Moment liefen mir 100 verschiedene Szenarien durch den Kopf was jetzt schief gehen könnte. Zum Glück passierte nichts. Wir begegneten keinem Eisbären, der Scooter lief wie eine Eins und die Handwärmer am Scooter haben vermutlich schlimmeres an Kristinas Händen verhindert, aber jedes kleine Geräusch durch Eis oder einen Stein im Belt wurde plötzlich zum absoluten Schocker.

Als wir einem Touristenunternehmen und kurze Zeit später drei Hundeschlitten begegneten fiel mir mehr als ein Stein vom Herzen. Longyearbyen ist keine schöne Stadt, aber an diesem Tag war es der schönste Anblick den man sich vorstellen kann!

Wir fuhren direkt nach Hause und wärmten uns den ganzen Nachmittag (es war gerademal 13:30 als wir ankamen) vorm Ofen auf! Die Wetterstation zeigte für den Vormittag einen gewaltigen Temperaturabfall an, es ist bis auf -34°C abgekühlt und das Verrückte war, dass mir im Vergleich zu Fredheim die Luft in Adventalen, wo die Station steht, geradezu warm vorkam. Bei unter -30° fahrend auf einem Scooter ergibt das übrigens eine gefühlte Temperatur von -45°C bis -60°C.

Wir waren beide unterkühlt und auch bei mir zeigten sich an der linken Hand Anzeichen von Erfrierungen. Auch heute, fast eine Woche danach ist der Finger dort noch leicht taub und er kribbelt wenn man darüberstreicht.

Das Schlimmste an diesem Nachmittag war jedoch nicht die Schmerzen im Finger oder die Kälte, sondern das dumpfe Gefühl die anderen vier in Fredheim zurückgelassen zu haben und auch stundenlang nichts von ihnen zu hören. Und das lässt mir bis heute auch keine Ruhe! Meine erste Reaktion als ich Kristinas Finger gesehen habe war dass wir alle sofort geschlossen umdrehen sollten. Warum ich nicht bis zum Ende darauf bestanden habe weiß ich nicht, aber es ist mir eine Lehre für die Zukunft, man fängt da draußen an, hungrig und unterkühlt, Situationen komplett falsch einzuschätzen. Meine erste Einschätzung war goldrichtig und ich hätte darauf bestehen sollen.

Gegen 7 Uhr abends ist mir dann ein ganzer Steinbruch vom Herzen gefallen als ich die vier auf ihren Scootern ankommen sah!

Die anderen vier sind noch ungefähr 30km weiter gefahren und mussten dann auch schlussendlich umkehren als sich bei zweien Erfrierungen im Gesicht und an Fingern zeigten. Alle sahen aus als seien sie in eine Schlägerei geraten, geschwollene Hände und zugeschwollene Augen.

Wenn ich daran denke was alles hätte schief gehen können dann wird mir immer noch ganz schlecht. Wir waren bei weit unter -30°C, mehr als eine Helikopterstunde entfernt von der Zivilisation und wir haben alle zusammen alles andere als rational gehandelt.

An diesem Tag habe ich eine gewisse Demut vor den Naturgewalten hier oben gelernt.

Das einzig Positive an diesem Tag für mich war dass ich die Situation eigentlich richtig eingeschätzt habe, die Grenzen dessen was man hier oben noch gesundheitsverträglich machen kann ausgelotet habe, wichtige Lektionen für die Vorbereitung einer solchen Tour gelernt habe und rund eine Minute wie EasyRider dem Sonnenauf/untergang entgegengefahren bin.

Und trotzdem… Pyramiden kreist mir immer noch im Kopf herum! 🙂

Da meine Finger und übrigens auch mein Kameraakku vor -30°C kapituliert haben hier nun ein paar Bilder aus fremder Feder. Danke dafür an Sebastian.